Ansprache zum Totengedenken der Landsmannschaften deutscher Muttersprache am 1. November 2011 beim Gräberfeld der Heimatvertriebenen im Stadtfriedhof St. Martin, Linz.
Prof. Dr. Georg Wildmann
Als wir Donauschwaben im Juni dieses Jahres den Erinnerungstag der Heimatvertriebenen zu gestalten hatten, haben wir am Vormittag mit Bischof Ludwig Schwarz eine Messe gefeiert. In seiner Predigt hat der Herr Bischof erzählt, dass er in der Slowakei, in Pressburg geboren wurde und in einem Ort an der Donau nahe Pressburg die ersten Lebensjahre verbrachte. Man könnte sagen, er gehört zu unserer Karpatendeutschen Landsmannschaft. Bei der Vertreibung der Sudeten- und Karpatendeutschen kam er in ein Lager bei Pressburg, mit seiner Mutter und seinen Geschwistern. Er war fünf Jahre alt, der Älteste mehrerer Kinder. Im Lager sind zwei kleine Schwestern nach kurzer Zeit gestorben. Er und seine Mutter wurden nach Österreich ausgewiesen.
Ich habe mich gefragt, ob es nicht angebracht wäre, vor unserer Gedenkstätte auf diesem Friedhof einmal ausdrücklich der verhungerten und an Krankheiten umgekommenen Kinder zu gedenken, indem wir das eine oder andere Ereignis betrachten, das uns vom Schicksal der Kinder erzählt.
Die Tito-Partisanen trieben am Karsamstag, dem 31. März des Jahres 1945, etwa Fünftausend Menschen, Einwohner und Zwangseingewiesene meines in der Batschka gelegenen eimatdorfesHeimatdorfes, innerhalb von zwei Stunden für immer aus ihren Häusern. Sie waren schon seit November 1944 rechtlos und enteignet.
Man trieb alle auf die Hutweide, die an das Dorf grenzte. Hier begann eine dreitägige Plünderung. Dann kam eine Selektion. Nur Mütter, die Kinder im Alter von bis zu zwei Jahren hatten, durften bei ihrem Kind bleiben, Mütter mit älteren Kindern galten als Arbeitskräfte und sollten in die zahlreichen örtlichen Arbeitslager eingeliefert werden.
War das Kind älter als zwei Jahre, wurde es der Mutter entrissen und der Großmutter oder einer älteren Tante zugeworfen - so muss man das nennen. Es gab unbeschreibliche Szenen, als die Dreijährigen, Vierjährigen, Fünfjährigen sich an ihre Mütter klammerten und schrien, dann aber weggerissen und unter Brüllen und Fluchen der Partisanen anderen Menschen übergeben wurden. Sie kamen dann mit den Alten und Kranken in eines der acht Vernichtungs- bzw. Todeslager. – ein erster Blick auf die Leiden der Kinder.
Wir Donauschwaben haben die Totenzahlen und Lagerschicksale möglicht umfassend dokumentiert. Ich habe einen Freund aus Bulkes, einem Ort in der Batschka, zum Großteil mit einer deutschen Einwohnerschaft. Die Donauschwaben von Bulkes wurden schon am 2. Dezember 1944 aus ihren Häusern getrieben und mussten zu Fuß in das neuerrichtete Lager Jarek, nahe Novi Sad gehen. Das Lager erwies sich als Todeslager. Es bestand 16 Monate, bevor die Überlebenden in ein anderes Lager kamen. In Jarek starben an die 7000 Personen an Hunger, Ruhr, Fleckfiber und Erschießungen. Mein Freund konnte 5240 der Opfer mit Namen und Daten nachweisen. Sie sind auch im Internet einzusehen.
Er fertigte auch eine Statistik über die in den Vernichtungslagern umgekommenen und überlebenden Bulkesern an. Von den Kindern von 1 bis vier Jahren kamen 86 um, 36 überlebten - 72 Prozent sterben, 28 Prozent überleben. Man muss annehmen dass gerade die Kinder bis zu 2 Jahren – wie mein Cousin im Lager Gakowa – keine Chance zum Überleben hatten. Von der Altersgruppe von 5 bis 9 Jahren überlebten 64 und starben 58. Also auch in dieser Gruppe überlebte nur etwas mehr als die Hälfte.
Ich denke mir manchmal, viele von ihnen wären heute als 70 – 80jährige unter uns, und viele hätten ein langes und erfülltes Leben gehabt. – Soweit ein zweiter Blick also auf die Leiden der Kinder.
Noch ein dritter Blick: Wenn man – wie ich – viele Erlebnisberichte meiner Landsleute zu lesen hateimatvertriebenen liestHeimatvertriebenen liest
, dann bleiben einem bestimmte Bilder unauslöschlich im Gedächtnis – der Schatz der Erinnerung eines längeren Lebens enthält auch schwarze Perlen.
Der Kaplan Mathias Johler wurde nicht interniert. Man weiß nicht, warum in manchen Bezirken der Batschka Priester von den ankommenden Partisanen umgebracht wurden, in anderen aber frei und verschont blieben.
Johler erlangte von seinem Bischof in Subotica einen offiziellen Schein, dass er Seelsorger in Gakowa sein darf. Gakowa wurde aber ein Vernichtungslager, in dem Laufe seines fast dreijährigen Bestehen 8.500 Donauschwaben umkamen. Johler veröffentlichte nach seiner Flucht sein Tagebuch über sein Wirken und Erleben als zuerst freier, dann internierter Lagerseelsorger.
Am 1. Dezember 1945 schreibt er: „Die Schwägerin ist tot. Ich gehe zum Friedhof, um zu sehen, ob das Grab schon fertig sei. Wie ich jedoch eintrete, sehe ich vor dem weitgeöffneten Tor der Totenkammer zwei Mädchen stehen, frierend, zitternd und bitterlich weinend. Ein gutes Wort, und ich erfahre, dass die Kinder ihre Mutter suchen. Eine Frage, und sie erzählen mir, dass ein Wagen beim Hause vorgefahren sei und die Mutter aufgeladen habe. Arme Kinder, ich weiß nun alles: es war der Totenwagen. ,Jetzt sind wir ganz allein,' klagte das ältere, elfjährige Mädchen, nur noch ein Brüderchen mit vier Jahren liegt daheim krank.' ,Und wen trägst denn im Arm?' frage ich. ,Das ist auch mein Brüderchen, zehn Monate alt', sagt sie und drückt es, in ein Tuch gehüllt, an die schluchzende, zitternde Brust; doch vergebens: das Kind war tot. Ein Lagerkinderschicksal." (Das Tagebuch von Mathias Johler ist schon seit 50 Jahren veröffentlicht vom Bundesministerium für Flüchtlinge, Vertriebene und Kriegsgeschädigte, Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ostmitteleuropa, Bd. V, Schicksal der Deutschen in Jugoslawien, Bonn 1961, S. 445).
Ob diese drei namenlosen Kinder zwischen vier und elf Jahren durchgekommen sind darüber gibt es keinen Bericht. Ich habe gemeint, wir Überlebenden sollten uns – in einer Gedenkstunde wie dieser – einmal ausführlicher an das Leiden und Sterben der Kinder unserer Volksgruppen erinnern. Der Schmerz sitzt tief, und die Erinnerung stellt Fragen.
Solches Kinderleid, solchen Kindertod vor Augen, versteht man den großen Theologen Romano Guardini. Er hat einmal gesagt: Wenn ich nach meinem Tod vor Gott stehe und mein Leben rechtfertigen muss, werde ich Gott eine Frage stellen, nur eine: Warum in dieser Welt das Leid der Kinder?