Gymnasium und Lehrerbildungsanstalt für Volksdeutsche in Eferding 1945-1949
von Prof. Dr. Georg Wildmann
Die Zeitverhältnisse 1945
Die Sieger des II. Weltkriegs brauchten zum Ingangsetzen eines geordneten Weiterlebens in ihren Besatzungszonen der Hilfe der Deutschen und Österreicher. Allein über 440 000 volksdeutsche Heimatvertriebene waren in Österreich im ersten Nachkriegsjahr behelfsmäßig unterzubringen und - wenigstens vorübergehend - auch in den Arbeitsprozess einzugliedern, so dass die Bewä ltigung des Lebens durch Improvisation die einzige Alternative darstellte. Dort, wo die österreichische Verwaltung einigermaßen intakt geblieben war, sträubte sich diese allerdings gegen Improvisationen. So wundert es nicht, dass angesichts der Zögerlichkeit der Landesschulleitung Oberösterreichs erst ein Machtwort der Besatzungsbehörden jenen Freiraum schuf, der es dem aus dem serbischen Banat stammenden Lehrer Johann Oberthür ermöglichte, das "Experiment Volksdeutschenschule Eferding" in Angriff zu nehmen - ein Gymnasium und eine Lehrerbildungsanstalt.
Die Schule bestand von Oktober 1946 bis Juli 1949. Aus Österreich und aus fünf ehemaligen Heimatländern stammten die 31 Professoren, die rund 800 Schüler aus 11 Mittel- und Südosteuropäischen Ländern unterrichteten. Aus diesen resultierten in der Endbilanz 404 Gymnasium-Absolventen mit Matura und 221 Absolventen der Lehrerbildungsanstalt. Dies alles in nur drei Jahren "pädagogischer Leidenschaft"! Sie alle konnten ihre durch Krieg und Vertreibung zerstückelten Schulbiographien zusammenfügen – die erste Etappe für ein Hineinfinden in das Leben als "Geschulter", wie die Landsleute zu sagen pflegten.
Die "Eferdinger" zeigen einen stärkeren Zusammenhalt als die meisten vergleichbaren Oberstufengymnasien in Oberösterreich. So machten die Akteure des Vereins vormaliger Schüler der Schule Eferding im Laufe der Jahre nach der großen Weltzerstreuung der Absolventen ein Drittel der Adressen ihrer Kollegen und Kolleginnen ausfindig. Es mag aber dazu kommen, dass die Stadt und Schule als eine Kompensation der Verlusterfahrungen wirkte, Gemeinschaft bot, aber auch neue Horizonte öffnete für junge Leute, die mit "verzweifeltem Fleiß" aus der Enge und Dürftigkeit der Notbehausungen heraus wollten. Es dürfte wohl auch die "Schicksalsgleichheit" zusammenschweißend gewirkt haben. Und nicht zuletzt dürfte die seltsam starke, ja freundschaftliche Verbundenheit von Lehrern und Schülern sowie die gelöste, offene Atmosphäre den "Schmerz der Gewöhnung" an das Neue gemildert haben.
Einige vergleichende Betrachtungen
Im Juni 1993 hat mich – Dr. Georg Wildmann, Linz – die Vereinsleitung der Eferdinger Absolventen eingeladen, die Festrede zu ihrem 8. Maturatreffen zu halten. Ich selbst war nach Zwangsarbeit, Lagerinternierung und Flucht durch glückliche Umstände für das Schuljahr 1964-47 im Realgymnasium in der Khevenhüllerstraße in Linz aufgenommen worden und hatte dort 1950 meine Reifeprüfung abgelegt. Ich war also kein „Eferdinger“. Ich sollte also meine Schulerfahrungen in Linz mit jenen der Eferdinger vergleichen. Wenn ich nun diesen wohl seltsamsten und erfolgreichsten schulische Phänomen der Selbsthilfe Oberösterreichs ins Auge fasse, um einige vergleichende Betrachtungen anzustellen, so muss ich einschränkend bemerken, dass ich die Eferdinger Schule nur aus ihren Schriften kenne, die in Buchform herausgebracht wurden, und zwar aus dem Band I: Maturantengemeinschaft Eferding, Eine Schule für Volksdeutsche in Österreich 1945 bis 1949, Graz 1991, das ein Autorenteam ehemaliger Schüler verfasst und der Verein ehemaliger Schüler herausgegeben hat. Die Seitenangaben der Zitate stammen aus Band I. Die ehemaligen Schüler haben einen II. Band nachgereicht, Unsere Schule. Das Beispiel einer erfolgreichen Problemlösung, Graz 2001.
Der "Gründervater"
Das wohl erstaunlichste Phänomen an der Eferinger Schule ist ihr Direktor. In der Khevenhüllerstraße erlebte man den Direktor, wie damals gewohnt: als absolute Respektsperson, die von der Aura der Unnahbarkeit umgeben war, dem man nur nahte, wenn es unbedingt nötig war; der ein bestehendes Institut übernahm und weiterführte - Symbol der Kontinuität.
Hier sieht man einen Direktor, der sich seine Schule selber schafft: Man begegnet gleichsam einem "Gründervater". Zum 1. Maturatreffen, das schon drei Jahre nach Ende der kurzlebigen vierjährigen "pädagogischen Leidenschaft" stattfand, schildert Johann Oberthür, wie junge Gymnasiasten und Lehrerkandidaten aus dem Osten und Südosten 1945 umherirrten - Ziellos, planlos, hoffnungslos, mit der Frage im Innern: Was soll aus uns werden? Und wörtlich: "Ich, ein langjähriger Erzieher und Freund der Jugend, sah die Gefahr und hatte den Mut, dieser mich entgegenzustemmen. Dank dem Entgegenkommen der österreichischen Schulbehörden, dem amerikanischen Hauptquartier und nicht zuletzt Herrn Dr. Mathä und dem Wohlwollen der Gemeinde Eferding konnten wir vor nun sechs Jahren mit unserer Arbeit beginnen"(168). Ein Freund der Jugend sah die Gefahr. An dieser Stelle ist mir - wieder einmal - aufgegangen, dass Liebe hellsichtig macht und Tatkraft verleiht und dass sie präzise eine Kraft ist, die eint und zusammenwachsen lässt, die "vis unitiva et concretiva", wie es die antike Philosophie (Dionysios Areopagita) prägnant ausdrückt.
Und welche Faktoren und Personen da zum gelungenen Werk zusammenwachsen mussten: Die Zusagen von Unterrichtsminister Hurdes, der Ministerialräte Messenböck und Ohnmacht, des Landesschulratschef Dr. Meiß-Teuffen, die Schutzbereitschaft der Schulbehörde der amerikanischen Besatzungsmacht, das Wohlwollen der Stadt Eferding ihres Bürgermeisters und ihrer Bevölkerung, das Fahrpreisentgegenkommen der „Eferdinger Lokalbahn (173). Bürger und Direktoren als Raum und Quartiergeber, die amerikanische Quäckerhilfe, die Church of Brothers, der bekannte Father Lani aus Los Angeles, der ökumenische Rat, die Caritas Linz, alles Geld- und Lebensmittelspender - wobei man, aus der Ansprache Oberthürs 1973, zwei Jahre vor seinem Tode, fast schon betroffen, die Worte registriert: "Ich danke besonders der amerikanischen Quäkerhilfe, Mr. Frederics und Emma Plank (Leiterin der Quäkerhilfe, Anm. Wildmann), einer Jüdin, meiner Studienkollegin aus meiner Wiener Studienzeit. Ihre Geldspende und laufende materielle Unterstützung ermöglichten es uns überhaupt, das Schuljahr 1948/49 zu eröffnen..."(179).
An seine Schüler schreibt er: „Besonders danke ich noch Ihren Professoren. Ihre Leistung und Aufopferung war beispiellos. Sie unterrichteten für 100,- bis 400 Schilling im Monat. Mehr konnte die Schule nicht leisten, denn das monatliche Schulgeld eines Schülers betrug nur 25 Schilling (174).
Oberthür will dieses Ethos, das er aus der Herausforderung der Zeit entfaltet hat, als Vermächtnis weitergeben und schreibt geradezu beschwörend an seine Professorenkollegen: "Vergessen Sie nie... dass Güte niemals Schwäche, sondern Seelengröße bedeutet; dass Hilfsbereitschaft den Mitmenschen gegenüber keine Schande, sondern Pflicht ist..." (166).
Sein pädagogischer Eros scheint mir am treffendsten zusammengefasst in dem zeitlos hellsichtigen Satz, der bei ihm mehrmals zu lesen ist: "Stecken Sie den Ziellosen ein Ziel ... sind Sie hilfsbereit ... Güte soll bei Ihnen Seelengröße sein"(166 und 169).
Das gemeinschaftsfördernde Ambiente
Im Vergleich zur Eferdinger Schule wirkt unser Realgymnasium in Linz geradezu wie die Literatur des Realismus zu der der Romantik.
In Linz eine reine Knabenschule, hier eine Schule mit gemischten Klassen. Das allein schon schafft ein anderes emotionales Klima. Was sich bei uns in Linz als bindend erwies, war allein die Klassengemeinschaft; in Eferding gelingt die Schulgemeinschaft. Dass diese gelingt, dazu tragen meines Erachtens drei Faktoren bei: Einmal das irgendwie gleiche Schicksal der Vertreibung und Heimatlosigkeit; gleiches Schicksal verbindet. Weiters - wie mir scheint - das Fehlen des partei politischen Lagerdenkens unter der Professorenschaft: Nach meiner Erfahrung besteht in einer Schule ein verkehrt proportionales Verhältnis zwischen Zusammengehörigkeitsgefühl und Parteizugehörigkeit der Lehrer. Schließlich gelang meines Erachtens die eigentümlich starke Eferdinger Schulgemeinschaft durch die beeindruckende Akzeptanz der Schüler in der bürgerlichen Lebenswelt und im betulichen Ambiente dieser Kleinstadt.
Wir in Linz liefen nach der Schule nach Hause und jeder verlor sich in der Welt der Baracken, seiner eigenen Familie oder zufälliger Gesellungen. Bei den Eferdingern liest man von der „Baracke", für alle ein Begriff; von der Kahnfahrt auf der Aschach; vom Baden beim "Langen Haufen" an der Donau; vom Musizieren zu Hochzeiten auf dem Lande – alles Zeichen, dass die klassenübergreifende Begegnung und Gesellung eine Selbstverständlichkeit war. Das bestätigt sich vollends, wenn es sich im Erlebnisbericht einer Schülerin so anhört: „In den Mußestunden suchte man lauschige Plätzchen, gemütliche Bänke und Rastplätze, um sich vom Schulstress zu erholen. Rund um das zentral gelegene Schloss Starhemberg und die „Mittleren Graben' fanden wir herrliche „Stelldicheins', trafen uns unter alten Bäumen, blühenden Sträuchern, auf alten Mauern und deren Resten zum Rendezvous. Junge Paare schlenderten verträumt durch die Alleen, schüchterne Mädchen nahmen verlegen erste Liebeserklärungen entgegen..." (143). Bei solchen Worten fühlt man sich als damaliger Linzer in eine fast schon anachronistisch anmutende Welt versetzt und meint, eine Schilderung zu hören, die einem Dichter der deutschen Romantik entstammen könnte. Im Vergleich dazu hätte man unser damaliges Linzer Milieu mit den Mitteln der „Beklemmungsprosa“ und der „Trümmerliteratur“ beschreiben müssen.
Ein Abgesang auf die osteuropäische "Koine
In meiner Klasse in Linz stammten die Schüler außer mir durchwegs aus Linzer Familien und solchen des Linzer Einzugsgebiets; man musste bemüht sein, aus dem Linzer Milieu denken zu lernen, um mitreden zu können. Ich gewann sozusagen ein Linzer Standbein, weil ich Pfarrjugendführer, - so nannte man das damals - von der Kapuzinerpfarre und bald darauf von St. Konrad am Froschberg wurde. Meine donauschwäbische Herkunft verdrängte ich leidlich, sie war nicht gefragt.
In Eferding jedoch kamen die 404 Absolventen des Gymnasiums und die 221 Absolventen der Lehrerbildungsanstalt, also die 625 Kandidaten, die in den knappen vier Jahren die Reifeprüfung und das Lehrerabsolutorium schafften, aus 27 Gymnasien (178) und stammten aus 12 Ländern. "Das waren", sagte Oberthür in seiner letzten Rede vor diesem Forum, "Volksdeutsche aus Jugoslawien, Rumänien, Ungarn, Polen, Estland, Lettland, Südtirol, Siebenbürger Sachsen, Böhmerwäldler, Sudetendeutsche, Deutsche aus den Sprachinseln Mährens und der Zips sowie aus den USA, der UdSSR und Österreich. Sogar Nationalungarn, Bulgaren, Rumänen, Jüdinnen aus den KZ-Lagern Buchenwald, Theresienstadt, Mauthausen und Auschwitz“. (178) Es verschlägt einem selbst heute noch, mehr als sechzig Jahre danach, einigermaßen die Rede, wenn man das liest und man ahnt etwas von der multikulturellen Welt, aus der wir kamen und die ein Kennzeichen der alten Monarchie gewesen war.
Direktor Oberthür kam aus Groß-Betschkerek (heute Zrenjanin), das im serbischen Banat liegt, und er kannte aus seiner Gymnasialzeit diese Welt, wo in den Dörfern ringsum je eine andere nationale Kultur gelebt wurde; und er selbst hatte als seine Banknachbarn in der Klasse den Serben, den Magyaren, den Schwaben, den Slowaken, den Rumänen und den Juden. Das erinnert an die Zeiten, da noch Galizien und Südpolen zur Monarchie gehörten und wo von Krakau bis Czernowitz und Lemberg der Sohn des österreichischen Verwaltungsbeamten auf der Schulbank saß mit dem Polen, dem Juden und dem Ruthenen. Die Schüler in der Klasse verstanden sich, auch die Familien waren befreundet, was fehlte, war eine tragende Idee des politischen Zusammenlebens dieser wie Mosaike über das Land gestreuten nationalen Kulturen. Der in Innsbruck lehrende Universitätsprofessor Kostandinović, ein Serbe, nannte diese multikulturelle Gemeinsamkeit, die auch er in seiner Gymnasialzeit in Belgrad erfahren hatte, im Anklang an die hellenistische Umgangssprache, in der auch die Bibel geschrieben ist, die
osteuropäische "Koine", die „Gemeinsame“. Diese würde niemals mehr wiederkehren würde. Die Eferdinger Schule erscheint mir wie der Abgesang auf diese vormalige ost- und südosteuropäische „Koine“, und ich habe noch von keiner Schule vernommen, bei der wie hier in Eferding bei der ersten Reifeprüfung (Schuljahr 1945/46) die Sprachen Deutsch, Latein, Griechisch, Englisch, Französisch, Russisch, Serbokroatisch, Ungarisch und Rumänisch, also gleich neun Sprachen, Prüfungsgegenstand gewesen wären. In Linz begnügten wir uns laut Lehrplan mit Deutsch, Latein und Englisch. Ein vierjähriger Abgesang auf die ostmitteleuropäische bei aller Muttersprachendifferenz doch „Gemeinsame“, auf eine erinnerungswürdige Vollbringung altösterreichischer Geschichte – wohl schon eine "Träne im Ozean" der Zeit, um auf den Buchtitel eines Autors anzuspielen, der ebenfalls aus diesem Raume stammt.
Das humane Maß
Nach einigem Umblättern in dem ersten Erinnerungs- und Dokumentationsband, den der Schülerverein veröffentlicht hat, scheint mir, dass es doch auch Gemeinsamkeiten zwischen der Eferdinger Schule und dem Realgymnasium in Linz gibt. Manche Professoren befleißigten sich wohl der "didaktischen Monokultur" (Horst Rumpf, Frankfurt), indem sie den Stoff ihres Gegenstandes erledigten und in hermetischer Abschottung zu anderen Gegenständen und ohne Ansehung der Person des Schülers ihre Noten setzten, streng und korrekt nach dem Buchstaben des Gesetzes. Ein sturer Erwerb ausweisbarer Kenntnisse, nach Erhalt des Zeugnisses abgestoßen und vergessen. Was mich indes nachhaltig prägte, war jene Haltung der wohl meisten meiner und Ihrer Lehrer, die ich als das humane Maß bezeichnen möchte. Sie nahm die individuelle Begabung und den moralischen Charakter des Schülers in den Blick. Diese Tugend des humanen Maßes habe ich persönlich am stärksten bei meiner mündlichen Reifeprüfung, also an meinem letzten Schultag, erlebt. Ich hatte das, was man eine gute Tagesform nennt und ich konnte in Philosophie, Latein und Darstellende Geometrie das Beste aus mir herausholen. Ohne dass einer der Lehrer je das Konferenzgeheimnis gebrochen und mir etwas gesagt hätte, bin ich fest davon überzeugt, dass man mir bei der Maturakonferenz mein traditionelles "Befriedigend" in Mathematik auf ein "Gut" hinaufsetzte, da mir gerade ein Punkt zur Auszeichnung fehlte. Das verstehe ich unter dem humanen Maß, von dem ich annehme, dass es auch an der Eferdinger Schule die meisten damaligen Lehrer auszeichnete: sie interpretierten den Buchstaben des Gesetzes nach menschlichem Maß und sie erfüllten so, davon bin ich überzeugt, den Geist des Gesetzes.
Ich war von dieser Haltung so beeindruckt, dass ich sie mir für meine Praxis als Lehrer zu Herzen genommen habe. In Anlehnung an die Rechtsphilosophie formuliert, hieß das im pädagogischen Alltag: Im Zweifelsfalle für die bessere Note!
Die Betrachtungen, die ich aus der Perspektive des außenstehenden Schicksalsgenossen zu machen versucht habe, konnten die Einmaligkeit des Experiment „Eferdinger Volksdeutsche Schule“ nur bruchstückhaft skizzieren. In einer Zeit, der man die Signatur „Stunde Null“ verlieh, begann in Eferding das, was man „Phänomen der Selbsthilfe“ nennen möchte. Es verwirklicht sich da etwas, was man als Maxime beherzigen sollte: Hilf Dir selbst, dann helfen Dir auch die Hilfsbereiten, solche, die auch mit dem Herzen denken