Erinnerungen eines Flüchtlingskindes aus Jugoslawien in den Jahren 1944 – 1946
von Dkfm. Otto Reinsprecht
Vorbemerkung der Landesleitung: Ein Beispiel, wie JEDE(R) von uns aktiv zur Öffentlichkeitsarbeit beitragen kann lieferte unser Landsmann Dkfm. Otto Reinsprecht mit seinem Schreiben an den Chefredakteur einer führenden OÖ-Zeitung, indem er seiner Freude darüber Ausdruck verlieh, dass „... die OÖN von Zeit zu Zeit Berichte über die Heimatvertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg bringen und damit unsere schwere Geschichte nicht in Vergessenheit geraten lassen. Ihren Beitrag unter dem Titel „Von einer Jugend im Barackenlager Haid" vom 22.4.11 habe ich im oben genannten Sinn verstanden. Danke dafür. Dieser Artikel hat mich dazu inspiriert, auch eine kurze Darstellung jener Zeit zu Papier zu bringen, die vom Kriegsende in Jugoslawien 1944 bis zur erfolgreichen Schulzeit in Österreich etwa bis 1954 läuft. Natürlich ist sie gerafft, sie enthält aber die für mich wesentlichen Eckpunkte. Ich sende Ihnen diesen Beitrag für den Fall, dass er das Interesse Ihrer Redaktion finden könnte.“
Nachdem der nachstehende Bericht unseres Landsmannes vom Chefredakteur des Blattes wohlwollend aufgenommen wurde, darf wohl auch mit einer gelegentlichen Veröffentlichung gerechnet werden.
Ich erlebte das Ende des Krieges 1944 in Sombor, einer Bezirksstadt im Norden Jugoslawiens, der damaligen Batschka, heute Vojvodina genannt. Meine Eltern lebten zuvor in Belgrad, wo ich auch geboren wurde. Wegen der sich verschlimmernden Versorgungslage zog mein Vater mit uns (Mutter und zwei Kinder) nach Sombor, wo meine mit einem Ungarn verheiratete Tante lebte. Wir wohnten dort bis zu unserer Flucht nach Österreich.
Ich erinnere mich noch, wie beeindruckt ich als 6-jähriger Bub war als die russischen und bulgarischen Truppen mit ihrem schweren Gerät durch unsere Straße zogen. Von diesem Augenblick an begann für uns Donauschwaben, die im Land verblieben waren, die schlimmste Zeit ihrer Geschichte. Allein in dem nahe gelegenen Vernichtungslager Gakovo verstarben rund 8.500 Frauen, Kinder und alte Menschen an Hunger und Krankheit. Wer zu fliehen versuchte, wurde in der ersten Zeit sofort erschossen.
Donauschwaben in Mischehen ließen die Partisanen in der Regel in Ruhe. Mein Vater konnte unsere Familie nur retten, in dem er sich als Kroate ausgab, der wegen der Kriegsereignisse keine Papiere bei sich hatte. Seine perfekten Sprachkenntnisse aller jugoslawischen Dialekte und der Besonderheiten der kroatischen Sprache halfen ihm dabei.
Im Herbst 1944 wurde ich eingeschult und besuchte von da an die serbische Volksschule in Sombor. Um nur ja nicht als Deutsche erkannt zu werden,war es uns, meiner jüngeren Schwester und mir, strikt verboten auch nur ein einziges Wort deutsch zu sprechen. Auch bei der Tante sprachen wir nur ungarisch oder serbisch. Das war für uns gar nicht schwer, denn wir wuchsen ja in dieser Gegend dreisprachig auf (Serbisch, Ungarisch und das verbotene Deutsch, das wir aber nicht vergessen hatten).
Ich lernte kyrillisch lesen und schreiben und musste wie alle Schüler in die kommunistische Jugendorganisation eintreten. Als Zeichen unserer Zugehörigkeit mussten wir bei verschiedenen Anlässen das rote Halstuch tragen. Auch einem 7-Jährigen ist bewusst, was es bedeutet unter Lebensgefahr sich verstellen zu müssen. Eine falsche Bemerkung und die Familie wäre im Vernichtungslager gelandet, der Vater wahrscheinlich liquidiert worden. Trotzdem war für mich in dieser Zeit das Leben unbeschwert. Wir hatten genug zu essen und konnten uns frei bewegen. Von den Greueln, die an unseren Landsleuten verübt wurden, bekamen wir als Kinder nichts mit.
Dann kam das Jahr 1945. Mein Vater, der für die Partisanen zwangsweise im Lazarett als Buchhalter arbeiten musste, erfuhr durch einen wohlmeinenden Partisanenoffizier, dass die kommunistische Geheimpolizei, die berüchtigte OZNA ihn auf die Fahndungsliste gesetzt hatte. Er war unter der deutschen Besetzung in leitender Stellung bei einer Tochtergesellschaft der Schenker-Gruppe tätig, hatte sich aber weder politisch noch kriminell etwas zu Schulden kommen lassen. Auf diese Nachricht hin floh mein Vater noch in der gleichen Nacht und gelangte nach abenteuerlicher Flucht Ende 1945 nach Linz. Über etliche Umwege u.a. aus Ungarn erfuhr meine Mutter, dass er gut in Linz angekommen sei. 1946 war der Zeitpunkt gekommen, dass sich meine Mutter mit uns Kindern (meine Schwester war 5 Jahre alt) auch auf die Flucht begab. In der Nacht überquerten wir unter Todesangst zu Fuß die ungarische Grenze und gelangten zuerst zu einem Bauern, wo wir im Wirtschaftstrakt auf Stroh übernachten konnten. Meine Mutter, die ungarische Schulen besucht hatte, sprach fließend Ungarisch und das erleichterte uns die weitere Reise. Auf Bauernwagen gelangten wir quer durch Ungarn bis nach Ödenburg/Sopron. Dort verfrachtete uns ein ungarischer Eisenbahner in den Zug nach Österreich. Er sperrte uns ins Dienstabteil und wies uns an, unter gar keinen Umständen irgendeinen Laut von uns zu geben. Er garantierte, dass die russische Grenzkontrolle das Abteil nicht kontrollieren werde. So geschah es auch. Wir sahen durch die Schlitze der herabgelassenen Jalousie an der Grenze die Stiefel der Soldaten, blieben aber in der Tat unbehelligt. Schon damals halfen demnach einzelne ungarische Menschen unter eigener Lebensgefahr uns ungarndeutschen Mitbürgern. So gelangten wir bis nach Wien, wo wir im Büro eines mit meinem Vater befreundeten Wirtschaftsprüfers aus seiner Belgrader Zeit übernachten konnten. Mein Vater hatte zu diesem Zeitpunkt als Flüchtlingsbetreuer einen Interzonenausweis der Caritas und so konnte er uns in Wien begrüßen. Auf einem offenen Lastwagen, der Kohle transportierte, fuhren wir im November bis Ennsdorf. Von einer Frau im Flüchtlingslager in Linz, die meiner Mutter ähnlich sah, hatte er einen Ausweis besorgt und so wagten meine Eltern mit uns Kindern zu Fuß den Übergang in die amerikanische Zone. Die Täuschung gelang und wir waren endlich befreit von der Todesangst, die uns die ganze Zeit über begleitete.
Wir kamen im Flüchtlingslager in der Konrad-Kaserne in Linz unter und wurden zuerst in einem Saal untergebracht, in dem etwa 20 Familien hausten. Zwischen den Stockbetten waren alte Militärdecken aufgespannt, sodass man zumindest auf diesen wenigen Quadratmetern ein Mindestmaß an Intimität hatte. Das Essen fassten wir in großen leeren Konservenbüchsen. Es war zumeist ein Mehlbrei mit Erbsen und Karotten. Das Schlimmste an diesen Umständen waren die Wanzen, die uns jede Nacht überfielen. Mit frischen Bohnenblättern wurden Fallen aufgestellt, an deren haarigen Unterseiten sich diese Biester verfingen. Langsam ging es aufwärts. Wir bezogen in der Kaserne ein Einzelzimmer. Mein Vater arbeitete als Buchhalter sieben Tage in der Woche für zwei Firmen des selben Besitzers und wir erhielten daraufhin eine geräumigere Dienstwohnung mit zwei Zimmern in einer Baracke am Firmengelände.
1951 erhielten wir die österreichische Staatsbürgerschaft und 1954 konnten wir eine mit eigener Hand mit viel Mühe und Fleiß errichtete Doppelhaushälfte in einer Siedlung beziehen. Zuletzt noch einige Worte zu meiner schulischen Laufbahn, wie sie im Kontext zum Dasein als Flüchtling erlebt wurde. Unmittelbar nach der Ankunft in Linz, im Dezember 1946, kam ich nahtlos in die dritte Klasse der deutschsprachigen Lagervolksschule. Obwohl wir zwei Jahre lang kein Deutsch gesprochen hatten gelang es mir den Lernstoff in Deutsch zu erfassen. Wir hatten einen alten Lehrer, der uns unter schwierigsten Bedingungen unterrichtete und ihm gebührt heute noch mein uneingeschränkter Dank.
Die größte Schwierigkeit hatte ich mit der Umstellung von den kyrillischen Zeichen auf die lateinische Schrift. Nach Abschluss der 4. Volksschulklasse musste ich an der Linzer Goetheschule eine Nostrifizierungsprüfung als Voraussetzung für den Übertritt in eine Mittelschule machen, die ich problemlos meisterte. In weiterer Folge trat ich zunächst in das Akademische Gymnasium in Linz ein, wechselte aber nach der dritten Klasse in das Realgymnasium in der Khevenhüllerstraße. Ich wurde von den Mitschülern nicht diskriminiert oder gar gemobbt und dennoch gab es eine Distanz zu den meisten von ihnen. Schließlich kamen viele aus alteingesessenen Bürgerfamilien und ich unterschied mich von ihnen durch die hochdeutsche Sprache, die im Elternhaus praktiziert wurde und auch durch die ärmliche Kleidung. Dennoch gelang es mir einige Freunde zu gewinnen und mich voll in das gesellschaftliche Leben der Jugend von damals zu integrieren.
Wie alle Flüchtlinge aus dem Gebiet der alten österreichischen Monarchie wurden wir schnell vollwertige Bürger dieses Landes, dem wir sehr viel verdanken.