WIE WAR ES WIRKLICH?

Haben die Großmächte die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten gebilligt? Wie war die Situation bei unserer Ankunft in Oberösterreich - für das Land, aber auch für uns Heimatvertriebene?

Gabriel Marcel, der französische Existenzphilosoph, sagt: „Vergessen ist Mangel an Treue“. Aus diesem gewichtigen Wort ergibt sich für mich die Folgerung: Man muss auch der Vergangenheit seines Volksstammes, aus dem man kommt, die Treue halten, indem man ihm seinen Platz in der Geschichte freihält und die Wahrheit um sein Schicksals nicht ins Vergessen geraten lässt. 

Über die Fakten um unsere Vertreibung und Eingliederung haben sich Scheinwahrheiten gelegt – sie haben sich so verfestigt, dass sie Mythen oder Legenden geworden sind, die selbst von den Fachhistorikern unbesehen übernommen werden. Um die Entzauberung einiger Legenden um unserer Vertreibung und Integration soll es mir in dieser Gedenkstunde gehen.

1.

Kein Deutscher und kein Österreicher ist der Autor der ersten Gesamtdarstellung der Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg. Es ist der Ire Ray Mc. Douglas, Professor für Geschichte an der Colgate Universität von Hamilton im Staate New York. Seine  Abhandlung „Ordnungsgemäße Überführung“. Die Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg (C.H. Beck, München 2012) folgt dem Grundsatz: Man muss die Vertreibung von allen Seiten her betrachten (S. 16). Das ist bisher nicht geschehen. Und er meint: „Nicht irgendwelche Tabus, sondern schlicht „Gleichgültigkeit und Unwissenheit unter den Historikern und in der Öffentlichkeit' hätten in Deutschland einen „ruhigen und produktiven Umgang' mit der Geschichte der Vertreibungen entgegengewirkt (S. 13). Für den Rest der Welt seien die Nachkriegsvertreibungen bis heute „das am besten gehütete Geheimnis des Zweiten Weltkriegs“ (S. 14).    

Mit einer Fülle von Belegen räumt dann Douglas mit den Mythen auf. Beneš plante die „Säuberung“ des slawischen Staates von Deutschen und Magyaren. Das Mittel dazu war einzig die Massenvertreibung (S. 31, 37). Ohne die Unterstützung durch die Alliierten wäre dieser Plan nicht zu realisieren gewesen. Schon Ende 1943 hatte Beneš die Zustimmung der politischen Eliten in Großbritannien und in den Vereinigten Staaten (Siehe S. 47-52). Es ist eine Legende, die Westalliierten hätten auf der Konferenz von Potsdam die Vertreibung der Deutschen nur widerwillig zur Kenntnis genommen. Alle drei alliierten Staatsoberhäupter wollten die Landkarte Mitteleuropas verändern und dafür war die Vertreibung die zentrale Komponente. Churchill sagte am 15. Dezember 1944 im britischen Unterhaus, die gewaltsame Umsiedlung sei „das befriedigendste  und dauerhafteste Mittel ... Reiner Tisch wird gemacht werden“ (S. 113). Den Entscheidungsträgern muss bewusst gewesen sein, dass man die Vertreibung und Überführung von 14 Millionen Menschen in der Kürze der Zeit logistisch nicht bewältigen würde und sie in einer humanitären Katastrophe mit Hunderttausenden Opfern enden würde. Das war für sie vertretbar, denn die deutsche „Kollektivschuld“ stand für sie fest. 

Kein Historiker, so sagt ein Rezensent des Buches von Douglas, hat bislang diese Staatsverbrechen – deren Opfer auch wir hier geworden sind – so umfassend und schonungslos dargestellt. Es schafft Klarheit über eine Tatsache: Nicht nur Beneš, Tito und die ungarischen Nationalisten wollten unsere Vertreibung, auch die „Großen Drei“ wollten „reinen Tisch machen“.

2.

Wir sollten uns in einer Besinnungsstunde wie dieser auch nicht die Legende von einer freudigen oder freundlichen Aufnahme der Flüchtlinge und Vertriebenen in unserer neuen Heimat Oberösterreich ausmalen. Die freundliche Aufnahme seitens der einheimischen Bevölkerung hat es nicht gegeben. Und das ist auch nicht verwunderlich, wenn man sich das Leben der Einheimischen unter den Bedingungen des totalen Krieges vorstellt.

Der Gau Oberdonau hat bis Herbst 1944  Tausende Bombengeschädigte aus dem Reichsgebiet, aus Wien und Niederösterreich aufgenommen. Im Laufe des November 1944 kamen dann die Flüchtlingstrecks der Nordsiebenbürger und der Donauschwaben aus Syrmien und Slawonien im Gau Oberdonau an und sollten vor dem Winter untergebracht werden. Da fast alle regulären Ausweichquartiere, wie Gasthäusern, Schulen und Baracken, bereits mit Bombenflüchtlingen, Dienststellen und Lazaretten belegt waren, wurden die Südostflüchtlinge hauptsächlich in Privatquartieren bei Landwirten auf dem Lande untergebracht. Es gab die Zwangseinweisungen: jeder Bauernhof musste eine Familie aufnehmen. Der Seufzer: “Um Gottes Willen, schon wieder welche“, ist nur allzu verständlich.

Jedenfalls gab es nach amtlichen Stellen Mitte Jänner 1945 in Oberösterreich 160.000 Bombengeschädigte und Flüchtlinge unterzubringen, bis Ende März hatte sich ihre Zahl auf 400.000 Personen erhöht. (Hermann Volkmer, Die Volksdeutschen in Oberösterreich. Ihre Integration und ihr Beitrag zum Wiederaufbau des Landes nach dem Zweiten Weltkrieg, A-4264 Grünbach 2003, S. 27). Rechnet man die die Fremdarbeiter, Kriegsgefangenen und KZ-Häftlinge dazu, dann kommt man eineinhalb Monate vor Kriegsende auf nahezu 600.000 Personen, die hier im Lande waren. Das konnte keine fremdenfreundliche Stimmung hervorrufen.

3.

Wir litten – was unsere Integration betraf - an der zögerlichen und unklaren Haltung der österreichischen Bundesregierungen. Politische Kreise befürchteten vor allem, ein großes Entgegenkommen den Volksdeutschen gegenüber könne die „Moskauer Erklärung“ vom 1. November 1943, wonach Österreich das erste Opfer der Expansion Hitlers gewesen sei, in den Augen der Alliierten bei den Staatsvertragsverhandlungen abwerten und als Eingeständnis einer Mitverantwortung Österreichs angesehen werden. (Eine Erklärung, mitverantwortlich gewesen zu sein, kam erst unter Bundeskanzler Vranitzky in den 1980er Jahren).

Es wäre also eine Legende zu sagen: Die neue Heimat wurde uns angeboten. Von 1945 bis 1954 haben die österreichischen Regierungen von damals nicht gewusst, was sie mit uns, der Masse der Flüchtlinge, anfangen sollen.  Daher sind die Jahre von 1945 bis 1956 kein Hohelied einer gelungenen staatsbürgerlichen Integration. Es waren vielmehr 10 Jahre Unsicherheit über die Zukunft. Man hatte als Volksdeutscher immer wieder das Gefühl: "Dieser Staat will uns nicht". Man fühlte sich ausgegrenzt. Die arbeitsrechtliche Benachteiligung der ersten sieben Jahre (1945 bis 1952) sowie die rund zehnjährige sozialrechtliche (1945 bis 1954) Hintanstellung  die Verständnislosigkeit der Umwelt und der Verwaltung für die Nöte der Heimatlosen – das alles hat weh getan. Darunter litten besonders die Älteren, die Väter und Großväter, die Frauen und die Mütter. Auf ihnen lastete die materielle Verantwortung für ihre Familien und sie quälte die Frage: Wie geht es in Zukunft weiter? Weiterwandern oder bleiben? Deutschland oder Amerika? Auch der soziale Absturz vom Bauern zum Knecht, vom Beamten zum Hilfsarbeiter erforderte viel Haltung. In Oberösterreich betraf es damals 153.100 Personen (Maximilian Kraus, Das Flüchtlingsproblem in Oberösterreich 1945-1963, OÖ. Landesarchiv, S. 22) .  Erst 1954, mit dem Angebot, ohne viel Bürokratie für die österreichische Staatsbürgerschaft optieren zu können, trat das Gefühl ein: Dieser Staat will uns haben!

4.

Die ersten Schritte in Richtung Integration der Volksdeutschen – wie wir damals noch gerufen wurden – ergaben sich in Oberösterreich aus der  wirtschaftlichen Not des Landes allerdings schon Anfang 1946. Nach dem Abtransport der Fremdarbeiter und der Kriegsgefangenen bildeten wir Volksdeutschen die einzige Arbeitskraftreserve für den Wiederaufbau der Zerstörungen und der Wiederankurbelung der Wirtschaft. Wir waren in den ersten Jahren eine wirtschaftliche Manövriermasse. Der erste Integrationswunsch kam von Landeshauptmann Dr. Heinrich Gleißner, der schon im Januar 1946 nach Wien schrieb, man solle nicht alle Vertriebenen nach Deutschland transportieren, er brauche mindesten 10.000 arbeitsfähige Personen für die Landwirtschaft und Bauwirtschaft in Oberösterreich. Im Herbst 1946 verlangte er schon 60.000 (Volkmer S. 98f.). Wie man sieht, urgierte zuerst  die Not des Landes, das humanitäre Mitgefühl wuchs erst allmählich heran.