November 2010 - Schwäbische Spuren in Aserbaidschan

von Silvia de Carvalho

Auf den ersten Blick wird sich nun jeder denken, „was hat denn ein Bericht über Aserbaidschan mit den Donauschwaben zu tun?“ Dasselbe hätte ich mich vor einigen Wochen auch noch gefragt. Am 3. November 2010 machte ich mich auf den Weg nach Aserbaidschan, um bei den dortigen Parlamentswahlen als Wahlbeobachterin im Auftrag der OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) mitzuwirken. Einen Tag vor meiner Abreise bekam ich Bescheid, dass mein Bezirk, für den ich als Beobachterin zuständig sein würde, der Bezirk Tovuz mit der gleichnamigen Kreisstadt sei.

Da ich den Namen der Stadt zuvor noch nie gehört hatte, begann ich ein wenig im Internet zu recherchieren. Zuerst erfuhr ich, dass der Bezirk im Norden an Georgien und im Süden an Armenien grenzte, sich also ganz im Nordwesten des Landes befindet. Aber welche Überraschung erlebte ich erst, als ich Tovuz in die Google-Suchmaske eingab! Tovuz ist nämlich 1912 von deutschen Siedlern, und zwar von Schwaben, als Traubenfeld gegründet worden. Ich glaubte meinen Augen nicht zu trauen und ging der Sache nach.

Württemberg war zu Beginn des 19. Jahrhunderts von den Napoleonischen Kriegen, Missernten, Hunger und religiöser Verfolgung gezeichnet. Da kam vom russischen Zaren Alexander I., Sohn der württembergischen Prinzessin Sophia, ein verlockendes Angebot an die Bewohner. Im Süden seines Landes wollte er den Schwaben Land zur Verfügung stellen und ihnen sowohl Religionsfreiheit als auch Befreiung vom Kriegsdienst gewähren. Aber nicht jeder war willkommen – das Angebot richtete sich nur an Familien, die Kenntnisse im Weinbau, Handwerk oder in der Viehzucht hatten.

Im Jahre 1816/17 machten sich über tausend protestantische Familien mit Planwagen auf den langen und beschwerlichen Weg, auf dem sie nach einer weiten Reise die Donau entlang über Wien und Budapest schließlich nach Tiflis kamen. Viele blieben in Georgien und viele sollten ihr Ziel nie erreichen.

Als erste deutsche Kolonie in Aserbaidschan wurde im Jahr 1818 in der Nähe der heute zweitgrößten Stadt Gandscha Alt-Katharinenfeld gegründet (das allerdings ein Jahr später wieder aufgegeben wurde) und kurze Zeit später auf der anderen Seite des Flusses Schamchor die Siedlung Annenfeld. Die größte und bedeutendste deutsche Siedlung in Aserbaidschan sollte Helenendorf werden, das 1819 von rund 200 schwäbischen Familien gegründet wurde und wo 1857 die erste lutheranische Kirche des Lande errichtet wurde. Die Spezialisierung auf den Weinbau brachte dem kleinen Ort Wohlstand und machte ihn zur bekanntesten schwäbischen Kolonie in Aserbaidschan. Zwischen 1888 und 1914 wurden von Annenfeld und Helenendorf aus weitere deutsche Siedlungen gegründet: Georgsfeld (1888), Alexejewka (1902), Eichenfeld (1906), Traubenfeld (1912) und Jelisawetinka (1915). In den 1920er Jahren kamen noch die deutschen Gemeinden Marxowka und Kirowka dazu.

Hier 2 deutsche Namensschilder auf den Häusern im ehemaligen Helenendorf:

Die Schwaben in Aserbaidschan haben sich große Verdienste um die Wein- und Cognac-Herstellung erworben und zahlreiche Kolonistenhäuser zeugen noch heute von den fleißigen deutschen Siedlern in Aserbaidschan.

Mit dem ersten Weltkrieg begann sich das Schicksal der deutschen Siedler dramatisch zu verändern: der Gebrauch der deutschen Sprache wurde untersagt und deutsches Eigentum wurde liquidiert. Stalins Machtübernahme und Massenverhaftungen führten dazu, dass viele emigrierten und in ihre alte Heimat zurückkehrten. Die verbliebenen 20.000 Deutschen in Aserbaidschan erlitten das traurige Schicksal vieler anderer Deutschen im Osten und sie wurden 1941 nach Kasachstan und Sibirien deportiert. Doch bis heute sind einige Spuren der schwäbischen Siedler geblieben, auf deren Spuren ich mich begeben habe.

Zuerst besuchte ich die Stadt Schämkir, die vor vielen Jahren als Annenfeld errichtet wurde. Vor kurzem wurde im Zentrum der Stadt ein Restaurant mit dem Namen „Cafe Annenfeld“ eröffnet, das mit seinem Namen an die schwäbische Vergangenheit der Stadt erinnert. Des weiteren findet man dort heute noch einige schöne Kolonistenhäuser sowie die deutsche Kirche, die 1909 gebaut wurde.

Auf mehr Spuren der deutschen Vergangenheit bin ich allerdings in der kleinen Stadt Göygöl gestoßen, die bis vor wenigen Jahren noch Xanlar hieß und 1819 als Helenendorf gegründet wurde. Als ich dort die im Jahr 1845 errichtete St. Johannes-Kirche fotografierte läuteten plötzlich die Kirchenglocken – es war 12 Uhr Mittags. Ich glaubt meinen Ohren nicht zu trauen. Die Kirche ist natürlich schon lange nicht mehr in Betrieb, aber jeden Tag zu Mittag läuten die Kirchenglocken – und das mitten im Kaukasus in einem muslimischen Land. Auch hier sah ich viele schöne Kolonistenhäuser, von denen einige noch die Namen ihrer ehemaligen Bewohner aufweisen, und unter denen man die einst sehr berühmten Weinkeller sehen kann. Die Hummelstrasse hieß früher Talstrasse, aber – "stellvertretend für alle tüchtigen Helenendorfer" - wie man auf einer Hinweistafel lesen kann – wurde sie zur Erinnerung an die bedeutende Familie Hummel in Hummelstrasse umbenannt – was auf den Straßenschildern sowohl auf deutsch als auch auf aserbaidschanisch geschrieben steht.

Leider habe ich den Friedhof mit den alten, teilweise restaurierten Schwabengräbern nicht gefunden, dafür aber allerdings den gepflegten Friedhof, auf dem deutsche Kriegsgefangene ruhen. Der letzte in Helenendorf lebende Deutsche – Viktor Klein – ist übrigens erst 2007 im Alter von 71 Jahren verstorben und hinterließ ein Haus voller Erinnerungen an Deutschland – obwohl er nie im Leben dort war. Warum er nicht deportiert worden war ist bis heute nicht ganz geklärt. Die einen sagen, sein Vater hätte russische Wurzeln, die anderen, er hätte gute Kontakte gehabt. Vielleicht stimmt ja beides. Jedenfalls ist Viktor auf dem deutschen Friedhof vor der Kulisse des Kleinen Kaukasus neben seiner Uroma Luise aus Reutlingen begraben. Zu seinem Begräbnis kamen über 200 Menschen und sein Haus, das er der deutschen Botschaft vermacht hat, soll künftig ein Museum werden.

Quellen:

wikipedia; Philine von Oppeln, Gerald Hübner: Aserbaidschan, unterwegs im Land des Feuers. Treschner Verlag, Berlin, 2009.