Ethnische Vielfalt und staatliche Einheit, oder: Die vielen Wege nach Srebrenica

Aktuelle Darstellung und Deutung des letzten Jahrhunderts auf jugoslawischem Boden

Rezension von Helmut Erwert

Zwei oder drei Generationen von Menschen in der Europäischen Union haben volle 65 Jahre lang niemals feindlichen Kanonendonner oder lebensverachtenden Bombenhagel erlebt. Sie kennen den Krieg und sein Elend nur mehr vom Fernsehschirm, von Bildern aus dem Irak, aus Afghanistan, oder erinnern sich an jene   unsäglich blutigen Konflikte am Rande des Kontinents, die es, - nach allem, was die Europäer in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts durchgemacht hatten, - eigentlich gar nicht geben durfte. Bilder tauchen auf im Gedächtnis – von  weinenden Frauen, zerschossenen Häusern in Bosnien, von Pferdewagenkolonnen flüchtender Menschen im Kosovo! Jugoslawien, das Geburtsland Zehntausender deutscher Gastarbeiter, das Urlaubsland von Millionen Europäern, die sich an seinen Stränden ihre Sommerbräune holten, war in blutige Fehden versunken.

In einem 400-seitigen Buch legt nun die Münchner Professorin Marie-Janine Calic die erste Gesamtdarstellung der „Geschichte Jugoslawiens im 20. Jahrhundert“ bis zur Gegenwart in deutscher Sprache vor, eingebettet in die Beck'sche Reihe „Europäische Geschichte im 20. Jahrhundert“. Sechs Großkapitel widmet sie den Zeiten vor, während und nach der zweimaligen staatlichen Einheit Jugoslawiens, bietet einen Anhang mit wissenschaftlichem Apparat, wertvollen Übersichten, Tabellen, Register und Kartenmaterial. Den deutschen Leser wird die Darstellung des Zweiten Weltkriegs, des „sozialistischen  Jugoslawien“ und dessen Auflösung besonders interessieren oder auch der postkommunistische  Zustand des südöstlichen Randes der europäischen Landmasse, der bis heute einen „weißen Fleck“ in der politischen Landkarte Europas markiert. Wenig verwunderlich also, dass sich Heiko Flottau in seiner Rezension des Buches in der SZ fast ausschließlich auf die letzten Teile der Darstellung stürzt, die neuralgische Punkte des Tito- und Nachtito-Regimes rekapituliert sowie die Gründe zu den Verbrechen der ethnischen Säuberungen aufsucht.

Das zentrale Interesse der Autorin gilt dem Gesamtstaat „Jugoslawien“ und seinen staatstragenden slawischen Teilnationen, was den Kritiker Lothar Höbelt (FAZ, 03.01.2011) veranlasst, von einer „Jugostalgie“ zu sprechen. Der Eindruck ist nicht von der Hand zu weisen, doch wird man der in der Balkanproblematik engagierten Wissenschaftlerin gerne zugestehen, Sympathie für den weiten jugoslawischen Staatsrahmen zu hegen, der Stabilität, Frieden und politisches Gewicht für die Balkanländer garantieren konnte. Dass der zweimalige Versuch des übernationalen Zusammenschlusses in Grausamkeit endete, wird nirgends im Buch beschönigt oder geleugnet, ist aber auch nicht der Staatsidee anzulasten, sondern denen, die sie nicht mit Augenmaß und ausgleichender Gerechtigkeit ausfüllen konnten.  

Aufwühlend und genussreich ist die Lektüre allemal. Bei der Fülle des Materials, der Vielfalt brillant formulierter, oft abgehobener Abstraktion ist es freilich nicht immer leicht, dem Verlauf eines analytischen Fadens zu folgen, ein klares historisches Urteil herauszuschälen, zumal die Autorin sich nicht selten auf schmalem Grenzterrain zwischen verhüllter Anklage und suggestiver Verteidigung, erklärendem Verständnis und ziviler Ablehnung bewegt. Den Grund des Scheiterns der „Erfindung einer jugoslawischen Nation“ sieht sie nicht in der oft behaupteten Rückständigkeit oder dem angeblichen Hasspotenzial der südslawischen Völker, sondern im Mangel an „gesellschaftlichen Voraussetzungen“ in Konfession und Sprache. Der mangelnde Konsens sei Ausfluss „lang andauernder, unterschiedlicher Fremdherrschaften“ (S. 333) gewesen. „Vielgestalt, Ungleichzeitigkeit und nationalideologische Hybridität mögen erklären, warum sich ... weder vor noch nach Gründung Jugoslawiens ein integrales südslawisches Nationsverständnis konsolidierte.“ (S. 333 f.).

Die Berichte und Zitate über allseitige Gräuel des Ustascha-Regimes, der Tschetniks, des Tito-Regimes, die ehrlich und ungeschminkt benannt werden, erfüllen den Leser mit Schaudern, lassen eine Genese des Schreckens vom Zweiten Weltkrieg bis zum „Nachfolgekrieg“ vermuten, den auch die ständig einbezogenen Parallelen der jugoslawischen Geschichte mit den europäischen Entwicklungen („Auch der Balkan, im Guten wie im Schlechten, ist auf das Engste mit den europäischen Zeitläuften verflochten.“

(S. 11) nicht ganz erklären. Nirgends spricht die Autorin eine klare ethnische Schuldzuweisung  aus, kleidet sie häufig in Verallgemeinerungen oder Passivkonstruktionen, die irgendwie alle Seiten inkludieren („Warum aber implodierte Jugoslawien mit kriegerischer Gewalt...? Zum einen wurden (die Konflikte) durch machtpolitische und sozialökonomische Gegensätze angetrieben, ... .. zum anderen ... durch eine stets aufs Neue aktualisierbare und interpretierbare, blutige Konfliktegeschichte dauerhaft unterfüttert, ...“. (S. 343).  Manchmal löst sie konfliktive Ursächlichkeiten in schwebende Abstraktionen auf („Während die abtrünnigen Republiken und Provinzen in der Unabhängigkeit eine alternativlose Notwendigkeit erkannten, mussten die Serben im Staatszerfall eine Bedrohung ihrer nationalen Kernprioritäten erblicken.“ S. 343), letztlich aber verankert Calic den Ursprung allen Übels in Entscheidungen und Befehlen, die „von Menschen“ ausgingen: „Die viel zitierte Balkankultur“ spielte „im Schlussakt des jugoslawischen Dramas nur eine Nebenrolle. Gewaltverherrlichende Traditionen, blutrünstige Volksepen, Waffenkult und patriarchalische Gewohnheiten bildeten eine Projektionsfläche für Kommunikationsstrategien und Handlungsweisen im Krieg, erklären jedoch nicht seine tieferen Ursachen. ...  . Der Fundus aus Geschichte, Kultur und Religion“ habe die Menschen mobilisiert, Autoritäten legitimiert, aber „keinen Automatismus“ begründet, . ... in jedem Moment der historischen Entwicklung gab es für jeden Menschen individuelle Entscheidungsspielräume“ (S. 344). Das klingt sehr einsichtig, doch kann diese Feststellung erklären, warum eine Vielzahl menschlicher Entscheidungsträger eine so eklatante Brutalität an den Tag legte, wie sie in den Protokollen des „Tribunals für das frühere Jugoslawien“ nachzulesen sind?

Calic ist sich des „fast uferlosen und noch längst nicht erschöpfend erschlossenen Untersuchungsgegenstandes“ bewusst, „insbesondere was die Zeit nach 1945 anbelangt,“ verspricht, ihre Aufgabe „ohne Vorurteile“ zu erledigen, wirbt um Verständnis, dass „kein Narrativ (erzählende Geschichtsschreibung, Anm. d. V.) ohne Verkürzungen und Verallgemeinerungen“ auskommt, dass sie sich bei der Weite des Themas häufig auf Sekundärliteratur stützen muss, schätzt sich hier glücklich, dass „die Jugoslawen zu allen Zeiten selber viel publiziert“ hätten. (Alle Zitate von S. 14). Die Verfügbarkeit, die Anzahl und der freie Zugang zu vorurteilsfreien Informationsquellen sind in der Tat entscheidende Kriterien für die Wissenschaftlichkeit einer historischen Darstellung, bieten die Gewähr, dass Einseitigkeit und Verzeichnung der Wirklichkeit vermieden werden. Die lapidare Freude der Professorin über jugoslawische Publikationen müsste freilich diskutiert werden, wenn man den Umstand ins Auge fasst, dass es 35 Jahre lang eine Fülle tendenziöser jugoslawisch-kommunistischer Tito-Hofgeschichtsschreibung gegeben hat, die bis heute ihre Schatten auf die Forschung wirft, indem sie – in Ermangelung anderer Quellen und Darstellungen - auch von seriösen deutschen Historikern unkritisch benutzt worden sind. Der Zugang zu Archiven in Serbien und anderswo im ehemals jugoslawischen Raum ist darüber hinaus bis heute erschwert, ihr Bestand oft äußerst lückenhaft und ungeordnet.

Da das zentrale Interesse an der Erforschung des Einheitsstaats Jugoslawien und seiner staatstragenden slawischen Teilvölker und –staaten drängt manche Erörterung detaillierter Befindlichkeiten der jugoslawischer Regionen und Minoritäten an den Rand der Wahrnehmung. Die Wissenschaftlerin mit dem Forschungsschwerpunkt „ethnische Minderheiten“ marginalisiert die Erörterung des Schicksals der deutschen Minderheit, die die größte im Jugoslawien vor 1945 darstellte, verkürzt und verstreut die Beschäftigung mit dieser halben Million Menschen auf insgesamt vielleicht eineinhalb oder zwei Seiten, wogegen ihre zahlenmäßige Präsenz gut den fünf- oder sechsfachen Raum mit differenzierterer Darstellung hätte beanspruchen dürfen, zeichnet dadurch viele schiefe Bilder. Nicht nur, dass die für Jugoslawien angegebene hohe Analphabetenrate auf die einst Habsburgisch geprägte Vojvodina mit ihrem großen deutschen Bevölkerungsanteil überhaupt nicht zutrifft, auch die Behandlung der Frau in der Gesellschaft („Frauen sind zu schlagen wie Pferde“) und vieles mehr zeigen diese Bevölkerungsgruppe und ihr Lebensumfeld in einem falschen Licht. Wenn der Buchtext für das Jahr 1918 vermeldet, dass der jugoslawische Staat auf Minderheitenschutzverträge verpflichtet wurde, die „den Minoritäten Nichtdiskriminierung, Religions- und Organisationsfreiheit sowie das Recht auf Grundschulunterricht in der Muttersprache zusicherte“ (S. 84), so ist das richtig, doch in der Verkürzung der Darstellung verschweigt er, dass die Minderheitenrechte nie in die jugoslawische Verfassung aufgenommen wurde, der deutschen Volksgruppe immer verwehrt geblieben war, auf eigene Kosten private Schulen mit effizientem Muttersprachenunterricht zu errichten, - eine Kulturautonomie, die den Südslawen im Habsburgerreich stets gewährt war. (Die deutschsprachigen Abgänger der jugoslawischen staatlichen Volksschulen waren weder fähig, korrekte Schreiben an serbische noch an deutsche Behörden zu verfassen, was ihnen nach der Ankunft im deutschen Mutterland 1944-1948 nicht selten eine arge Geringschätzung, ja Verachtung einbrachte.) Die Kürze der Darstellung hat es offensichtlich auch nicht erlaubt, „den Grundsätzen guten wissenschaftlichen Arbeitens folgend ... verschiedene Perspektiven gegeneinander abzuwägen“, wie es die Autorin im Vorwort (S. 15) ankündigt. Nur so ist zu verstehen, dass das Buch in den spärlichen Passagen über das Schicksal der deutschen Minderheit für die Jahre 1945-1948 haarsträubende Falschbehauptungen transportiert: „Im Juni beschloss die jugoslawische Regierung ..., 'dass alle Deutschen ... nach Deutschland ausgesiedelt werden sollen.' Zehntausende emigrierten daraufhin nach Deutschland und nach Österreich“ (S. 179).

Angesichts dieser Desinformation in einem seriösen Geschichtsbuch für deutsche Leser fehlen einem die Worte! Wie gerne wären „Zehntausende“ von ihnen in den Jahren 1945-1948 aus ihren Arbeits- und Hungerlagern emigriert, hätten ihre vieltausendfältigen Leiden beendet, wären ihrem grauenhaften Tod entkommen, der in den jugoslawischen Internierungslagern von 1945-1948 auf sie wartete! (Keiner der Lagerkommandanten, keiner aus der kommunistisch-sozialistischen Führungsriege in den 35 Jahren Tito-Jugoslawien und danach ist wegen Menschenrechtsverbrechen vor Gericht gebracht worden!)

Hier ist der hochrangigen Historikerin ihre karge Auswahl der Sekundärliteratur zur Falle geworden. Hätte sie doch aktuelle Studien gelesen, - die Dissertation von Michael Portmann etwa (Die kommunistische Revolution in der Vojvodina 1944–1952. Wien, 2008), der von „Arbeits- und Hungerlagern“,  von „Todeslagern“ für die deutsche Bevölkerung spricht, oder den Aufsatz von Zoran Janjetovic (in: Daheim an der Donau. Novi Sad/Ulm 2009. S. 218-223), der die Internierungen „Konzentrationslager für Schwaben“ nennt, wo „bis Mitte 1945 praktisch die gesamte noch freie deutsche Bevölkerung“ hinter Schloss und Riegel gehalten wurde.

Wie kann eine angesehene Wissenschaftlerin in einem viel beachteten Buch den Lesern in Deutschland eine solch tendenziöse, ungerechte Darstellung des Schicksals ihrer jugoslawiendeutschen Minderheit andienen? Zugegeben, die publizistischen, medialen Schienenstränge laufen gern in solche Richtung, mag auch sein, dass Autoren hierzulande in dieser Sache kaum einen öffentlichen Widerspruch befürchten müssen, aber darf man in einem demokratischen Rechtsstaat mit freier Meinungsäußerung die Wahrheit mit Füßen treten? Die Leugnung der Leiden Zehntausender Frauen, Kinder und alter Menschen, die wegen ihrer Volkszugehörigkeit zu Tode kamen, tut den Opfern bitteres Unrecht, beleidigt die überlebenden Zeitzeugen, verwirrt die Nachkommen, ist ein Schlag ins Gesicht aller Wahrheitssuchender auch in der heute serbischen Vojvodina, wo inzwischen Gedenkstätten auf Massengräbern inmitten wild wuchernder Äcker entstehen und Jahr für Jahr versöhnliche Trauerfeiern von verschiedenkonfessionellen Geistlichen abgehalten werden.

Keinem der bisherigen Rezensenten des Jugoslawienbuches ist übrigens aufgefallen, dass das historische Schicksal der jugoslawischen deutschsprachigen Minderheit in dieser Publikation empörend falsch dargestellt ist. Wenn solche unwahren historischen Behauptungen über die eigene Seite in der deutschen Öffentlichkeit unwidersprochen hingenommen werden, zeigt dies nicht den traurigen Zustand unserer Kultur- und Sprachgemeinschaft? Offenbart es nicht eine höchst bedauernswerte Desinformation und eklatante Defizite im Wahrheitsbedürfnis?

 

 

Marie-Janine Calic: Geschichte Jugoslawiens im 20. Jahrhundert.

München: C. H. Beck 2010. 416 S. mit umfangr. Anhang.

ISBN 978 3 40660646 5 (broschierte Ausgabe) 26.95 €.

 

Helmut Erwert, Sudetendeutsche Str. 5,

94327 Bogen, Deutschland