Vom Sinn der Gedenkstätten und Mahnmale

von Prof. Dr. Georg Wildmann

Zwischen 1996 und 2008, also 50 und mehr Jahre nach Ende des II. Weltkriegs, entstanden bei den Massengräber der Todeslager und auf manchen zerstörten Friedhöfen vormals donauschwäbischer Gemeinden im heutigen Serbien und Kroatien Gedenkstätten und Mahnmale. Es sind heute mehr als zehn. Den Beginn markierte ein schlichtes Holzkreuz auf dem Friedhof des Todeslagers Rudolfsgnad im serbischen Banat.

Wir aus der Erlebnisgeneration, die dem Verhängnis entrinnen konnten, fragen manchmal, warum man Gedenkstätten für die Toten und Mahnmale, errichtet von uns in unserer alten neuen Heimat, noch befürworten soll. Haben Gedenkstätten für Tote und Mahnmale für Zeitgenossen und Nachkommen der Erlebnisgeneration einen Sinn? Zu dieser drängenden Frage einige Gedanken, die vielleicht dazu beitragen, in Gedenkstätten und Mahnmalen einen Sinn zu entdecken.

1. Gedenkstätten und Gedenkkreuze dienen der Ehre der Toten.

Wir wollten schon mit den Büchern über unseren Leidensweg den Toten ihre Identität wiedergeben und damit ein Werk der Pietät setzen, das unserer donauschwäbischen Tradition würdig ist. Wie groß die Pietät der Donauschwaben ihren Toten gegenüber anzuschlagen ist, daran erinnert, um nur ein Beispiel zu bringen, die Aussage des Tagebuches des Matthias Johler, der Seelsorger im Todeslagern Gakowa war. Da heißt es: ,,9. Februar 1946...: Die Grabkreuze werden von den Gräbern gerissen und zum Brennholz geworfen; die Grabhügel aber werden der Erde gleichgemacht. Wie bei Verbrechern! Wohl hat noch nichts so tief unsere Leute erschüttert wie diese Verordnung." Bei allem Hunger, bei aller Krankheit in den Todeslagern erweist sich dennoch die Einebnung der Gräber, diese symbolische Auslöschung der Würde, als die stärkste Leiderfahrung.

In solcher Tradition sind Mahnmale der Protest, ein Ankämpfen gegen das Vergessen und gegen die Geringschätzung unserer Toten. Sie sind damit auch ein  Protest gegen die „Zweite Vertreibung“, die Vertreibung aus der Erinnerung.  Oder noch schärfer artikuliert: Unsere Mahnmale sind sinnfälliges Nachfragerecht, sinnfälliges Klagerecht. Im Gedicht „Jemand anderer“ schreibt Erich Fried: „Tote Menschen / sind tote Menschen / wer immer sie waren / Wer nicht nachfragt / wie Menschen sterben / hilft sie töten.“

2. Denkmäler und Mahnmale sind eine andere Form von geschichtlicher Überlieferung.

Erzählungen unserer Erlebnisgeneration in unseren Büchern, gelegentlich auch in Berichten der spärlichen uns wohlgesonnenen Zeitungen, machen einer breiteren Öffentlichkeit sicherlich am stärksten das tausendfache Leid vorstellbar, das Menschen in diesem Jahrhundert zugefügt wurde. Ein Mahnmal erzählt in anderer Sprache als die Geschichten, die wir veröffentlicht haben, von jenen Tausenden, von deren Existenz nichts mehr zeugt, nicht einmal ein Grab.

3. Mahnmale sind Orte der „Trauerarbeit“ 

Es ist eine Tatsache, dass die heute etwa 80- bis 85jährigen sich emotional nicht mehr voll in die neue Heimat einleben konnten. Hier sind sie „zuhause“, aber sie sprechen von „drheem“ oder „drhoom“ oder „drhaam“ und meinen damit in ihren Gesprächen die alte Heimat.

Es gibt Schuldgefühle der Davongekommenen: Warum bin ich davongekommen, andere, meine Freunde, Verwandten, Vater, Mutter, nicht? Auch viele der  Davongekommenen sind Opfer. Für alle diese ist Erinnern und Fragen Trauerarbeit. Und diese braucht Zeit. Für die Überlebenden kann das Wissen - dass dort, wo die verstorbenen Lieben ruhen,  Mahnmale stehen, eine Hilfe für die nicht vollendete Trauerarbeit sein, für die sanfte Lösung vom liebgebliebenen „Daheim“ und den Gesichtern der nahegebliebenen Toten, für die Fähigkeit zur gelassenen, zur ruhigen, zur beherrschbaren Erinnerung. Die Betagten könnten mehr innere Bindung an die neue Heimat gewinnen und einen Schub Lebenstüchtigkeit im Alter.

Die Zustimmung der Landsleute zum Mahnmalen zeigt, dass die Auseinandersetzung mit der eigenen Trauer soweit abgeschlossen ist, dass ein Zugehen auf die Täter oder ihre Nachkommen die psychischen Möglichkeiten vieler von uns nicht mehr überfordert.

4. Gedenkstätten sind Optionen für ein Verzeihenkönnen

Letztlich sollte die Errichtung eines solchen Mahnmales ein versöhntes Europa zum Ziele haben. Versöhnung setzt Verzeihung voraus. Dazu ein vorsichtiges Wort:  „Niemand kann stellvertretend für andere Verzeihung aussprechen, so wenig, wie er stellvertretend für andere bereuen kann... Wie soll jemand, dessen nächster Angehöriger grausam gequält und ermordet wurde, denen vergeben, die dem Opfer dies antaten?“ (Thomas Hoppe)   Dazu hat er von den Toten keine Legitimation erhalten. Bei uns Überlebenden der Grausamkeit und Vertreibung sind Vergebung und Versöhnung, wenn sie existentiell ernst gemeint sind, vollziehbar, aber nicht einklagbar wie eine moralische Pflicht. Vergeben und Verzeihen ist kein reiner Willensakt des betroffenen Menschen, sondern kommt aus dem Ganzen einer oft emotional geprägten und traumatisierten Person. „In den Fällen, in denen Opfer den Tätern schon vor deren Bitte um Vergebung verzeihen und sich befreien können von der Gefangenschaft in den eigenen traumatischen Erinnerungen, erfahren sie dies nicht als eine eigene Leistung, sondern als Geschenk, eine Erlösung.“ (Th. Hoppe). Umgekehrt darf man demnach jene Landsleute nicht als moralisch zweitrangig einstufen, die sagen: "Die Gedenkstätte ist für mich Ehrung der Toten, aber kein Mahnmal zur Versöhnung, da ich nicht vergeben kann."

5. Denkmäler und Mahnmale sind Orte kollektiven Gedächtnisses ...

... und damit von hoher identitätsstiftender Bedeutung. Im Idealfall bringen sie es dazu, dass eine „Erinnerungsgemeinschaft“ entsteht. Sie können die Gnade der Versöhnung - wie ich es nennen will - vorbereiten helfen. Durch sorgfältig konzipierte öffentliche Ehrungen der Opfer kann es gelingen, solche Formen kollektiver Erinnerung von Einseitigkeit und politische Manipulation zu schützen. Gedenkstätten erfordern behutsame „Gedenkstättenarbeit“.

Die Erinnerungsgemeinschaft könnte in den Parteien, den Opfern und ihrer Nachkommen, der Mitläufer-Täter und ihrer Nachkommen, der vormaligen Vertreibungs-Sympathisanten, die sich an solchen Mahnmalen treffen, das Bewusstsein stiften, eine gemeinsame Geschichte gehabt zu haben. So kann etwa die Erinnerung an die „Eine Welt an der Donau“ – „Jedan svet na dunavu“ (Nenad Stefanović) das Bewusstsein wecken, eine gemeinsame Teilidentität zu besitzen und damit das Gefühl der Verbundenheit wiedererwecken.

Sie, die Mahnmale, können zum Nachdenken über die gemeinsame Tradition in einer Welt des Strukturwandels führen: Traditionsverlust ist immer auch Realitätsverlust. Dort über das öffentlich zu sprechen, was den Opfern widerfahren ist, bedeutet, ihnen etwas von ihrer Würde wiederzugeben: Keim der moralischen und kulturellen Rehabilitation möchte ich es nennen.

Die Forderung nach Strafverfolgung der eigentlichen Täter steht nicht im Widerspruch zur Versöhnung.  Sie ist sogar ein Erfordernis der Humanität. Das mag zunächst seltsam klingen, doch ist es so. Dies aus einem zweifachen Grund. Einmal verhindert die Namhaftmachung und Verfolgung der eigentlichen Verbrecher, dass man die Schuld auf ein ganzes Kollektiv projiziert: auf die Deutschen, auf die Serben usw.  Und zum anderen schärft Strafverfolgung ein, dass das Tun des Bösen Folgen hat. Das ist ja das Fatale an einer Generalamnestie, wie sie de facto im kommunistischen Jugoslawien vollzogen wurde, dass die Verbrecher den Eindruck gewinnen, ihre Taten blieben ohne Folgen. Das höhlt nicht nur Recht und Moral aus, es wirkt auch dahin, dass die verbrecherischen Hierarchien, die alten Seilschaften, erhalten bleiben.

6. Mahnmale und Gedenkstätten verlangen auch Folgeüberlegungen

Es bleibt das Problem, ob man das Gedenken ritualisieren soll. Etwa durch einen jährlichen Gedenktag? Wäre solches eine Chance für die junge Generation? Ließe sie sich ansprechen?

Manchmal denke ich dabei an das Wort Friedrich Nietzsches: „Nur was wehtut, bleibt im Gedächtnis.“ Unsere Nachgeborenen erfahren von der Vertreibung. Aber wer kann ihnen dieses pannonische Golgotha schon so präsentieren, im Familiengespräch oder durch Film und Buch, dass es ihnen wehtut - vielleicht bleibt es ihnen, vielen von ihnen, deswegen auch nicht im Gedächtnis. Würde ihnen - unserer Nachkommengeneration - ein Ausstellungsraum im Museum nicht mehr zusagen?

Und die Nachkommen der Vertreibergeneration? Hat für sie ein Mahnmal mehr Sinn?  - Es scheint fast so. Es könnte ja sein, dass sie die Pflicht empfinden, für eine moralische Rehabilitierung der unschuldigen Opfer zu haften, zu haften für das, was ihre Väter angerichtet haben. Es könnte ja sein, dass sie eine Art humane Bringschuld wahrnehmen. Es könnte ja sein, dass sie sich sagen: "Wenn wir wieder vollen Anschluss finden wollen an das Ideal der europäischen Humanität, dann müssen wir trachten, unsere Ehre vor dem Forum der Weltgeschichte wiederherzustellen. Und dazu müssen wir auch eine Tat setzen, um für die „Umsiedlung in den Tod' (György Konrád) Tausender im Namen unserer Väter symbolische Sühne zu leisten." Werden sie die Last der Geschichte - ihrer Geschichte - annehmen?

Ein Wort danach

Die Geschichte hat uns Vertriebene nicht gerecht behandelt. Für die Medien sind wir Opfer zweiter Klasse. Die Politik will uns nicht mehr „europäisieren“, das heißt zu einem europäischen Rechtsproblem machen. Zuständige Gerichte für Völkermord gibt es, doch ihr Statut bezieht sich nur auf Verbrechen ex nunc, ab der Gegenwart. Die Verbreitung unserer objektiven Geschichte im konkreten Umfeld unserer Gesellschaft ist schwierig. Der Mensch sieht, was er glaubt. Wer glaubt, dass wir Rechtsextreme sind, der wird in jeder unserer Äußerung ein Körnchen Rechtsextremismus finden.

Bleibt uns die realpolitische Alternative, eine Rehabilitation der kleinen Schritte zu versuchen. Wenn es das kroatische und serbische Umfeld tatsächlich, wie es scheint, ernst meint, wenn eine ausgestreckte Hand wirklich da ist, dann wäre die Errichtung der Totenmale und Gedenkstätten ein solcher kleiner Schritt moralischer Rehabilitierung. Viele von uns haben unsere geschichtliche Tragödie und die reale Gesellschaft und Politik der Gegenwart zu abgeklärten Skeptikern gemacht. Dennoch, so meine ich, gehört es im Sinne eines bekannten Lutherwortes zu unserem Selbstverständnis als Landsmannschaft: Auch wenn morgen die Welt untergeht, will ich heute noch ein Bäumchen pflanzen. Will sagen: Auch wenn morgen die ganze Rehabilitierungsfrage vom Tisch gewischt wird, wollen wir heute noch das Bäumchen Gerechtigkeit pflanzen.